Von einem kleinen Vogel und einem grossen Glockenturm
12. Oktober 2015
Auf der Fähre von Dover nach Dunkerque fliegt plötzlich ein kleiner Vogel durch das Bord-Restaurant. Annette sieht, wie er in einer Ecke bei einem Abfalleimer landet. Alleine wird er den Weg in die Freiheit durch die enge, automatisch schliessende Türe niemals finden.
Annette nähert sich dem kleinen Piepmatz, der sich (wohl starr vor Schreck) nicht bewegt. Sie holt aus dem Mülleimer einen grossen Kaffeebecher und kann diesen über den Vogel stülpen. Beim Umdrehen klammert er sich an ihrem Finger fest. Sie löst ihn sanft und verschliesst den Becher mit einem passenden Deckel.
Nach der Ankunft in Dunkerque setzen wir das Wintergoldhähnchen auf den Ast einer Hecke.
Unser kleiner Freund schüttelt kurz die Federn und versteckt dann den Kopf im Gefieder.
Es wird wohl noch eine Zeitlang dauern bis er begreift, dass er wieder frei ist.
Wir lassen ihn alleine zurück und hoffen, dass er seinen Weg in dieser unbekannten Gegend finden wird.
Der Weg nach Belgien führt uns an der französischen Stadt Bergues vorbei.
Wir haben vor einiger Zeit die Filmkomödie „Willkommen bei den Sch’tis“ von Dany Boon gesehen und uns schlapp gelacht. Der Streifen brachte es auf über 20 Millionen Besucher und ist damit der erfolgreichste französische Film aller Zeiten.
Deshalb fahren wir kurz in das Städtchen hinein, in dem der Hauptteil des Films gedreht wurde und erkennen den Marktplatz mit dem Turm „Belfried“ wieder, in dem der Postbote Antoine jeweils virtuos auf dem Glockenspiel Melodien spielte.
In Belgien verlassen wir in die Autobahn bei der ersten Ausfahrt und suchen einen geeigneten Übernachtungsplatz.
Nach einigen vergeblichen Versuchen werden wir bei der Abtei von Gistel fündig und da wir kurz davor an einem belgischen Frittenrestaurant vorbeigefahren sind, ist auch das Abendessen organisiert.
Wer einmal die krossen belgischen Pommes frites gegessen hat, die bei zwei unterschiedlichen Temperaturen frittiert werden, versteht, warum diese als Spezialität Belgiens gelten. Sie sind um Klassen besser als die fettig-labberigen Dinger, die man oft in der Schweiz oder Deutschland erhält.
Weiter nach Deutschland
13. Oktober 2015
Heute fahren wir durch Belgien und die Niederlande weiter nach Deutschland. In der Nähe von Haltern finden wir einen Parkplatz im Wald, wo wir über Nacht bleiben.
Erholung in Deutschland
14. Oktober bis 11. November 2015
Einmal mehr geniessen wir die Gastfreundschaft von Ilona und Volker. Sie stellen uns ihr Ferienhaus in Malmsteg zur Verfügung, wo wir uns von unserer Sommerreise durch die Beneluxstaaten und Grossbritannien erholen.
Link zur Strecke vom 14. Oktober 2015
Annette singt zusammen mit ihrer Schwester vom 17. bis 25. Oktober im Chor „Holsatia Cantat“. Holsatia Cantat ist ein Projektchor, in dem sich die SängerInnen jeweils treffen und eine Woche lang unter der Leitung des Opernsängers Ralf Popken proben und am darauf folgenden Wochenende drei Konzerte auf höchstem Niveau geben.
Dieses Jahr wurde die Chorwoche leider von einem tragischen Todesfall eines Sängerkollegen überschattet.
Auch hier in Norddeutschland, nahe der Ostsee, gibt es viele lauschige Orte. Ein Ausflug führt uns nach Panker zum Hessenstein.
Auf einem Spaziergang geniessen wir den Herbst. Eine markante, alte Eiche zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. Narben von abgebrochenen Ästen erzählen einiges über ihr Leben, in dem sie so manchem Sturm getrotzt hat.
Ein anderes Mal fahren wir nach Eutin. Unterwegs leuchet eine Malvenblüte in der Herbstsonne. Wenn man das Bild genau betrachtet, sieht man, dass sie auch Lebensraum für eine Spinne und eine Schnecke bietet.
Auf dem Rückweg fahren wir kurz nach Sonnenuntergang am Kellersee vorbei. Wir halten an und lassen uns von dieser Stimmung verzaubern.
Wieder einmal wird uns bewusst, was wir eigentlich schon lange wissen: „Schön ist überall, man muss es nur sehen!“
Einige unserer LeserInnen fragten nach, wie wir eigentlich wohnen. Wir zeigen hier zwei Innenansichten von unserem „Castel“.
In unserem NOBIS stehen zwei Betten, eine Dusche, eine Toilette, ein Gasherd mit drei Kochstellen, ein Kühlschrank, ein Abwaschbecken, eine Dieselheizung, ein verlängerbarer Tisch, ein fest installierter und zwei drehbare Autositze, Schränke und ein von innen und aussen zugänglicher Stauraum unter dem Querbett.
Uns genügt das. Was braucht man mehr zum Leben?
Die Toilette steht hinter der aufrollbaren Schiebetüre und wird zugänglich, wenn man diese schliesst.
Zum Duschen ziehen wir zusätzlich den Duschvorhang vor Toilette, Fenster und Waschbecken. Der Wasserhahn des Lavabos ist an einem ausziehbaren Schlauch montiert und auch als Duschbrause benutzbar, die man durch eine Öffnung im Vorhang führt.
Falls man lieber draussen duschen möchte, zieht man einfach den Schlauch durch das Fenster nach aussen.
Für den nötigen Strom sorgen zwei zusätzliche Batterien, die beim Fahren durch die Lichtmaschine sowie durch zwei Solarpanels aufgeladen werden, die auf dem Dach montiert sind.
Wenn wir einmal nicht sitzen oder liegen wollen, stehen uns hinter dem Fahrer- und Beifahrersitz knapp 1 ½ m² freier Platz zur Verfügung. Das ist nicht übermässig viel … aber trotzdem haben wir noch keine Sekunde bereut, kein grösseres Fahrzeug gekauft zu haben.
Zum Glück unterstehen Menschen nicht dem Tierschutzgesetz, eine Klage für nicht artgerechte Haltung wäre wohl unvermeidlich. Doch der uneingeschränkte Auslauf, in immer wieder neuer Umgebung, wiegt die Enge im Wohnbereich mehr als auf. 🙂
Und warum heisst unser Wohnmobil NOBIS (mit kurzem, offenem „O“)?
Bevor wir es kauften, hatten wir Kontakt mit einem Ehepaar, das ein paar Jahre lang mit einem Reisemobil unterwegs war.
Als der Mann hörte, welches Fahrzeug wir uns anschaffen wollten, meinte er in seinem breiten Berner Dialekt: „Das isch nobis!“ (Das ist Unsinn!) Wir müssten uns unbedingt ein grösseres Gefährt zulegen, wenn wir ständig darin leben wollten.
Unfreiwillig nach Berlin
Am 10. November fliegen wir für ein paar Monate nach Schwedisch-Lappland. Deshalb wollen wir Fahrkarten zum Flughafen Hamburg kaufen. Das ist kein Problem und geht dank Internet auch von überall her … aber was die Deutsche Bahn alles wissen will: … Name, Adresse …tip tip tip, … Geburtsdatum…tip tip tip, … Nummern unserer Identitätskarten: …tip tip tip, … Ablaufdatum der ID’s: … tip tip … OH! Sch!… die laufen am 12. Dezember 2015 ab.
Wir können zwar noch nach Schweden fliegen, aber wie nächstes Jahr zurück???
Wir rufen bei der Schweizerischen Botschaft in Berlin an und erfahren, dass die nur für die Auslandschweizer zuständig sind, also nicht für uns.
Annette erläutert unsere Situation, der freundliche Mann versteht und will uns ausnahmsweise einen Termin geben – in zwei Wochen.
Dann sind wir aber bereits in Schwedisch-Lappland. Wieder erklärt Annette, dass wir am nächsten Dienstag fliegen werden (heute ist Donnerstag). Und dass Sorsele ca. 1’000 Kilometer von der Schweizer Botschaft in Stockholm entfernt liegt.
Er könne uns eventuell einen Not-Termin für die Erfassung der biometrischen Daten organisieren, meint der verständnisvolle Angstellte, aber erst wenn die Schweizer-Behörden unsere Angaben überprüft und ihnen übermittelt hätten. Da wir nur eine ID, aber keinen Pass wollen und unsere Fotografie in den nächsten zwei Arbeitstagen gemacht werden muss, wird alles ziemlich kompliziert und sprengt beinahe den Handlungsspielraum der einzelnen Ämter. Es folgen unzählige Telefonate:
– mit der Botschaft in Berlin,
– mit der Gemeinde Wohlen („Sie müssen kurz bei uns vorbeikommen, sonst können wir Ihnen nicht weiterhelfen!“),
– mit dem Passamt in Aarau („Dafür ist Ihre Wohngemeinde zuständig“),
– mit der Gemeinde Wohlen („Da müssen Sie mit dem Passamt in Aarau telefonieren“),
– mit dem Passamt in Aarau („Nein, das geht nicht, das haben wir noch nie gemacht, das muss Ihre Wohngemeinde …“, „… da haben wir bereits …“, „…. dann muss ich mich zuerst erkundigen …“),
– mit der Botschaft in Berlin.
Schlussendlich klappt es doch noch und wir erhalten einen Termin in der Botschaft für morgen um 10:40 Uhr.
Wir nutzen diesen unfreiwilligen Ausflug in die Hauptstadt Deutschlands und planen dafür gleich einen ganzen Tag ein. Bereits um 4:30 Uhr machen wir uns auf den Weg.
Vor dem Fotoshooting spazieren wir durch das Regierungsviertel Berlins.
Das Paul-Löbe-Haus und das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus sind Verwaltungsgebäude des Deutschen Bundestages und liegen an der Spree.
Ein Baum in diesem architektonisch schönen, aber etwas sterilen Regierungsviertel, wurde wohl absichtlich gepflanzt, um den vielbeschäftigten Politikern die Jahreszeiten anzuzeigen. 😉
Dass der humorvolle Sicherheitsbeamte, der uns in das Botschaftsgebäude einlässt, kein Schweizer sein kann, erkennen wir daran, dass er Beat sein Original-Schweizer-Taschenmesser (mit einem Schweizerkreuz!) abnimmt. Beat findet, dass dies eigentlich als Passierschein genügen sollte, kann aber den Beamten nicht umstimmen. 🙂
Nach mehr als vier Stunden Anreise sind die Formalitäten in weniger als zehn Minuten erledigt. Das nennen wir Effizienz!!!
Unsere Ausweise werden nun in ca. zwei Wochen auf die Schweizerische Botschaft in Schweden geschickt, und wenn wir dann unsere alten ID’s dorthin senden, werden wir unsere „neuen Identitäten“ kriegen.
Uff … Glück gehabt!
Danach besuchen wir das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas.
Der israelischen Künstler Dani Karavan konzipierte einen „Ort der inneren Anteilnahme, der Erinnerung“. Er entwarf ein kreisrundes Wasserbecken („Brunnen“) mit schwarzem – „endlos tiefem“– Grund. Die Kreisform ist Ausdruck der Gleichheit. Das Wasser im Rundbecken symbolisiert die vergossenen Tränen.
Der Brunnen wird von einem etwa drei Meter breiten Band aus einzelnen Steinplatten umgeben. In einige sind die Namen von Konzentrationslagern eingemeisselt.
In die Beckenmitte platzierte der Künstler eine dreieckige steinerne Stele, die an den Winkel auf der Kleidung der KZ-Häftlinge erinnern soll. Auf ihr liegt immer eine frische Blume. Sie soll „gleichzeitig Symbol des Lebens, der Trauer und der Erinnerung“ sein.
Tief beeindruckt verlassen wir diese Gedenkstätte.
In der Nähe des Brandenburger Tores holen uns die fröhlichen Klänge eines Strassenmmusikers wieder in die Gegenwart zurück. Pausenlos improvisiert er bekannte Melodien auf seiner Steel Pan (auch „Steel Drum“ genannt).
In Berlin, der Stadt der Künste, der Künstler und der Museen trifft man immer wieder auf ausserordentliche Kunstwerke.
So fasziniert uns eine Silhouette, die hoch über einer Strasse thront; Konzentration auf das Wesentliche in Perfektion. Einfacher kann man wohl kein Gesicht gestalten.
Später besuchen wir das „Stelenfeld“, das Denkmal für die ermordeten Juden Europas.
Das Mahnmal besteht aus dem 19’000 m² grossen Stelenfeld mit 2’711 Betonquadern und einem unterirdischen „Ort der Information“.
Wir schlendern zwischen diesen Stelen herum. Am Rande sind sie noch sehr niedrig, doch schon bald wachsen sie uns über den Kopf und das Gefühl einer beklemmenden Enge überkommt uns.
Bei unserem Besuch beginnt es leicht zu regnen und da scheinen sogar die herzlosen Betonklötze zu weinen in Anbetracht des Genozides, der während des 2. Weltkriegs stattgefunden hat.
Im unterirdischen „Ort der Information“, wie er emotionslos heisst, wird der Besucher mit verschiedenen Einzelschicksalen konfrontiert.
Die persönlichen Leidensgeschichten, die meistens mit der Ermordung in einem Konzentrationslager endeten, gehen uns sehr ans Herz.
Was damals geschah, darf nie vergessen werden!
Was damals geschah, darf nie mehr geschehen!
So wird unser Ausflug nach Berlin zu einem Gedenktag an die Opfer des 2. Weltkrieges.
Zum Schluss besuchen wir das „Denkmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennung“.
Diese Gedenkstätte kann leicht übersehen werden. Erst wenn man genau hinschaut, findet man eine Glasplatte, die zwischen die Pflastersteine eingelassen ist. Sie gibt den Blick frei in einen unterirdischen Raum mit leeren Bücherregalen. „Bibliothek“ heißt das Kunstwerk des israelischen Künstlers Micha Ullmann.
Die Bücherregale würden Platz für ca. 20’000 Bücher bieten. Sie erinnern an die rund 20’000 Bücher, die nationalsozialistische Studenten am 10. Mai 1933 auf diesem Platz in Flammen aufgehen liessen.
Neben der Glasplatte befindet sich auf einer Bronzeplatte ein Zitat von Heinrich Heine:
Das war ein Vorspiel nur,
dort wo man Bücher verbrennt,
verbrennt man am Ende auch Menschen.
Heinrich Heine 1820
Als wir zum Bahnhof zurückkehren, ist es bereits dunkle Nacht.
Wir spazieren über die Gustav-Heinemann-Brücke und schauen hinüber zur beleuchteten Moltkebrücke.
Nun ist unser „Urlaub“ in Deutschland zu Ende. Am 10. November 2015 fahren wir nach Hamburg und fliegen von da nach Schweden.
Vielen Dank Ilona und Volker für die herzliche Gastfreundschaft. Wir haben uns bei euch sehr wohl gefühlt.
Vielen Dank auch Ursula und Werner, dass wir unseren NOBIS diesen Winter bei euch einstellen dürfen.
Hallo Ihr Lieben!
Vielen Dank für die Vogelrettung uvm… und die Bilder aus Berlin, habe sofort Heimweh bekommen….:)
möchte nur schnell anmerken: falls ihr mal wieder sesshaft werden möchtet: klickt mal in WWW Aeugstenbahn.ch o.ä., es werden Hüttenwarte für 2016 gesucht— also wiiiir würden uns sehr über euch freuen:);):)!
gaaaaaanz liebe grüsse aus dem weltfremden schlitz in die welt:)
OliSam Birgitta
Liebe Birgitta,
BerlinBerlinBerlin: einerseits hat uns der offene Umgang mit der schrecklichen Vergangenheit sehr imponiert, aber auch das pulsierende Leben und die Schätze der Vergangenheit sind eindrücklich. In Berlin waren wir wohl nicht zum letzten Mal.
Danke für den Tipp mit der Aeugstenhütte. Wir haben uns die Seite von vorne nach hinten und wieder zurück angeschaut. Einfach traumhaft!! Da hast du uns ja einen schönen Floh ins Ohr gesetzt….FALLS wir wieder sesshaft werden, werden wir darauf zurückkommen….;)
Liebe Grüsse aus Schwedisch-Lappland ins Schweizer Glarnerland
Annette und Beat
Oh, Berlin. Bei diesen beiden Gedenkstätten waren wir ebenfalls. Ein Freund von uns macht dort spezifische Führungen. Der weinende Betonklotz – ein sehr treffender Bildtitel – überhaupt: gut eingefangen die Stimmung.
Gute Reise!
Grüßt mir Lappland!
Die Gedenkstätten sind wirklich sehr eindrücklich. Das trübe regnerische Herbstwetter und die heruntergefallenen Blätter verstärkten die Stimmung zusätzlich.